Grenzgänge

Cornelia Rößlers Werk verhandelt die Grenzen menschlicher Identität. Die Haut des Menschen erscheint dabei zunächst als die natürliche Grenze zwischen Innen und Außen, dem Ich und der Umwelt, dem Einzelnen und der Gesellschaft. Die menschliche Haut ist es auch, die sich leitmotivisch durch das jüngere Werk der Künstlerin zieht.

 

In Identity wird Haut als nach innen und außen durchlässige Grenze in den Blick genommen. Mehrere quadratische Fotos stark vergrößerter Hautausschnitte unterschiedlicher Angehöriger einer Familie hängen auf Augenhöhe nebeneinander. An die Stelle der Unverwechselbarkeit des menschlichen Gesichts, die uns im Alltag so gute Dienste leistet, tritt die Unverwechselbarkeit auf kleinster Ebene. Der kleinste Ausschnitt unserer Haut, ja eine einzelne Hautschuppe genügt bereits, um unsere Unverwechselbarkeit, unsere Individualität zweifelsfrei zu erweisen. Im Lichte der genetischen Bestimmtheit des Menschen stellt sich auch die Frage seiner Individualität neu. Die Grenze zwischen Innen und Außen verwischt. Zwar bleibt Cornelia Rößler mit der Kamera noch außerhalb des Menschen, doch die Vergrößerung ist so stark, dass der Schritt vom Äußeren des Menschen in sein Inneres kein großer mehr zu sein scheint.

 

Eine andere Grenzüberschreitung widerfährt der menschlichen Individualität in der Installation Erinnerung. Aus vier an einer weißen Wand in einer Reihe aufgehängten Leuchtkästen münden schwarze Kabel, die sich zu Füßen der Leuchtkästen in einem unentwirrbar scheinenden Kabelwust verbinden. Die schwarzen Zeichnungen auf dem weißen Grund der Leuchtkästen sind den modernen Abbildungsverfahren von Synapsen im menschlichen Gehirn nachempfunden, wobei die einzelnen Kästen von einer sehr unterschiedlichen Dichte an Verbindungen und Verstrebungen gekennzeichnet sind. Die unterschiedliche Dichte dieser Vernetzungen steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Lebensalter. Je älter der Mensch, je reicher er an Erfahrung ist, desto mehr nimmt die Dichte der Verstrebungen zu, desto mehr nimmt aber auch das Licht ab, das den Weg durch die Glasscheibe der Lampenkästen findet. Ebenso wie die Erfahrung auf der menschlichen Haut ihre Spuren hinterlässt, so lässt sich dieses Phänomen ebenso im Innersten des Menschen, in seinem Gehirn, beobachten. Das uns sonst verborgene Gehirn, das der abendländischen Philosophie für gewöhnlich als Sitz der Seele gilt, wird zu einem Betrachtungsgegenstand, dessen Geheimnisse zumindest nicht grundsätzlich anderer Natur zu sein scheinen als die Geheimnisse, die sich in der für jeden sichtbaren menschlichen Haut mit der Zunahme an Erfahrung eingegraben haben. Die klare Scheidung des Menschen in Leib und Seele wird fraglich. Eine weitere Grenze verliert an Eindeutigkeit. Wie auch in anderen Arbeiten der Künstlerin, in welchen sich das Altern der Haut besonders in der Zunahme an Strukturen verdeutlicht, tritt auch hier ein Verfallsprozess, der mit der Zunahme an Erfahrungen und mit der Entwicklung immer reicherer Strukturen unaufhaltsam fortschreitet, in den Blickpunkt: Das Licht der Leuchtkästen, dessen Leuchtkraft als Lebenskraft verstanden werden kann, nimmt umso mehr ab, je mehr die Vernetzung der Synapsen zunimmt. Hierin scheint sich ein Dilemma menschlicher Existenz zu spiegeln: Zwar gewinnen wir fortwährend neue Erfahrungen, die uns neue Querverbindungen ziehen lassen, die Verständnis und am Ende vielleicht sogar Weisheit ermöglichen. Dieses Wachsen der Erfahrungen, Verbindungen und Beziehungen führt jedoch unaufhaltsam zum Tod. So wären wir mit zunehmendem Alter zwar besser auf das Leben vorbereitet, doch diesen Zugewinn konterkariert unsere materielle Bedingtheit, die sich in zunehmender Gebrechlichkeit unerbittlich Ausdruck verschafft.

 

In der Videoinstallation Gedanken stehen der Mensch und seine Umwelt ebenfalls in enger Beziehung zueinander. Mit drei Beamern werden abwechselnd drei verschiedene Räume einer Wohnung an die Wand geworfen, während man der Stimme einer alten Frau zuhört. Gelegentlich bewegt sich die Kamera auf einzelne Details der Wohnung zu, verliert sich aber schnell wieder im Dunkel. Die alte Frau, offenbar die Bewohnerin der Wohnung, bekommt die Kamera nie in den Blick. Fast scheint es so, als würde die Frau die Wohnung schon gar nicht mehr bewohnen, so starr und unbelebt öffnet sich dem Betrachter der Blick in die Wohnung. Durch die zahlreichen Fotos, Postkarten und Kalender erhält die Wohnung einen geradezu musealen Charakter. Das Meiste scheint seit sehr langer Zeit nicht mehr verrückt geworden zu sein. Die Unbelebtheit der Wohnung steht in einem seltsamen Kontrast zu dem geselligen Tonfall der alten Frau, der jedoch immer wieder in Angst und Einsamkeit umschlägt, was weit besser dem Charakter der Wohnung entspricht. Die unbelebten Gegenstände der Wohnung erzählen ebenso eine Geschichte wie die belebte Stimme der Frau, die davon erzählt, wie ihre Nachtruhe immer wieder von einem Klingeln gestört wird. Doch selbst als sie die Wohnungsklingel vom Hausmeister abstellen lässt, klingelt es weiterhin. Die Grenze zwischen Innen und Außen ist auch hier durchlässig. Obwohl das Klingeln nach dem Abstellen der Klingel offensichtlich nicht mehr einen äußeren Reiz zur Ursache haben kann, ist die Frau verzweifelt darum bemüht, das Klingeln durch Externalisieren zu rationalisieren. Die Quelle des Klingelns entzieht sich aber einer eindeutigen Lokalisierung. Es ist nur anwesend in den Erzählungen der alten Frau. Diese ist nur anwesend in ihrer Stimme, wobei die Räume ihrer Wohnung ihr als Klangkörper zu dienen scheinen. Auch in dieser Installation ist eine klare Trennung von Körper und Geist nicht länger möglich und wird nach beiden Richtungen aufgebrochen. Einerseits wird die Anwesenheit der Frau eigentümlich geistig, insofern wir Sie nie zu sehen bekommen und sie gewissermaßen ihres natürlichen Körpers beraubt ist. Andererseits materialisiert sich ihre Stimme in den eigentlich unbelebten Räumen und Einrichtungsgegenständen ihrer Wohnung, die sich dadurch beleben. Hinzu kommt das in der Rede der Frau immer wiederkehrende Klingeln, dessen Realität für die Bewohnerin ganz außer Frage steht, selbst wenn es für diese Realität spätestens nach dem mechanischen Abstellen des Klingelns außerhalb der Wahrnehmung der Frau keinen Ort mehr zu geben scheint.

 

Rößlers Werk verweigert dem Betrachter eine eindeutige Zuordnung und Verortung des Wahrgenommen und eröffnet so den Blick auf Grenzbereiche unserer Existenz, die vielmehr mit unserer Umgebung verwoben ist, als wir es auf den ersten Blick wahrhaben. Rößler verweist auf die Grenzen der Rationalisierbarkeit der Welt, die sich hier in der Unmöglichkeit der Verortung des Klingelns ausdrückt. Trotz der Grenzüberschreitungen, die wir in Rößlers Werk in den Blick bekommen, bleibt am Ende eine Grenze bestehen: die prinzipielle Begrenztheit des menschlichen Verstandes.